„Litteratur des 20. Jahrhunderts: verrückt und mathematisch zugleich, analytisch-phantastisch: die Dinge wichtiger und im Vordergrund, nicht mehr die Wesen; die Liebe abgeschafft (…) mehr von der Geschichte im Kopfe erzählend als von der im Herzen.“ (Nietzsche, 1887/8)

Und unter dieser Literatur gibt es wohl kaum einen kühneren Ent-Wurf als Georges Perecs hirnwütiges Konstrukt einer gigantischen Zeitsekunde, prismatisch gebrochen in dem wundersamen Kristall, den ein Appartementhaus in Paris, eines Abends im Juni 1975 so um 20 Uhr, bildet. Angetreten war Perec mit dem Roman Die Dinge – nun also erzählte er mehr von der Geschichte im Kopf, die sich jeder Leser selber zusammensetzen muss. Dabei fragt es sich, ob das Buch Das Leben eine Gebrauchsanweisung, das 1978 den angesehen Prix Médicis erhalten hat, sein Hauptwerk bleibt – oder das Cahier mit den Listen, die dem Buch zugrundeliegen. Ein Kunstwerk der reinen Potentialität, krönender Abschluss der Bemühungen der Gruppe OuLiPo, der Werkstätte für Potentielle Literatur, die 1961 als Unterabteilung des Collège de ‘Pataphysique in Paris gegründet worden war und der Perec 1967 beitrat.

Da sich Perec für unschöpferisch hielt, schöpfte er die mathematischen Möglichkeiten seiner Konstrukte bedingungslos aus. Die Literatur als Maschine, die sich selber gebiert – und wieder auflöst: Nachdem er die Regelzwänge seiner Listen mit dem Buch erfüllt hatte, erstellte er – so etwa die auf der Rückseite des Faltprospekts abgebildete synoptische Tabelle über die Länge der Kapitel – wieder neue Listen, die das Werk resümieren und in den Anfangszustand zurückversetzen. Die Sprache als Selbstschöpfung und Selbstvernichtung.

Am Anfang also steht das Schachrätsel Polygraphie du Cavalier: Wie muss man den Springer ziehen, damit er jedes Feld auf dem Schachbrett nur einmal berührt? Perec erweitert die 8 Reihen des Schachbretts auf 10x10 Felder. Das ergäbe 100 Kapitel. Doch an Epikurs Theorie des Clinamen orientiert – der individuellen Abweichung und Ex-zentrik der Atome im freien Fall durch den Weltraum, was dem wilden Wirbel der in Buchstaben-Atome zerstäubten Worte entspricht – baut er den „Fehler“ ein, der sich dem berechenbaren Verhalten der Atome entzieht. Der 66. Zug führt, auf die Quadrate des Appartementhauses übertragen, in den Keller unten links (braun gefärbt). Dieses Kapitel fehlt, so wie auf den Listen mit 42 Wörtern, Themen, Zitaten aus der Weltliteratur jeweils eine fehlt (M = manque) und eine falsch ist (F). Der Rest permutiert nach den komplexen Regeln einer Erweiterung der Struktur der „quenine“, Queneaus Weiterentwicklung der Sonnettenform altprovenzalischer Troubadoure. 

Das Leben eine Gebrauchsanweisung heisst ironisch der Titel seines Hauptwerks, da es keine Anweisung zum Leben mehr geben kann – und nicht mehr geben muss, wenn jeder selber denkt und das Universum im eigenen Rundkopf erkundet, ohne auf die Spitzköpfe der Tatmenschen zu achten. Es ist ein still-verzweifelter, poetisch-verspielter Protest der die Befreiung aus der eigenen Unmündigkeit nicht als kategorischen Imperatif formuliert, sondern in Fragezeichen ausklingen lässt. In die Frage: Wie könnte das Leben, die Kunst, die Gesellschaft auch sein? Gegen das: Es ist so und so!, ein schüchternes: Wieso nicht auch so? oder nocheinmal anders? 

Phantasie und Phantasma bilden ein Phantom, das dem Gespenst des Ressentiments und dem Guhl des flachköpfigen Spasses Utopien entgegenhält. Nicht mehr Utopien einer perfekten Welt, aber einer bestmöglichen aller Welten voller Fehler und Chancen.

– Stefan Zweifel

Perec